Der Duft von Pinienkernen
Katrin und Greta haben schon immer alles zusammengemacht. Sie betreiben gemeinsam eine Nudelbar in München. Doch dann begeht Greta einen unverzeihlichen Fehler, und es kommt zum Bruch mit Katrin. Alles ist verloren: die gemeinsame Wohnung, die Bar, die Freundschaft. Greta bleibt nur ein Weg: Sie muss ihr altes Leben hinter sich lassen.
Mit dem Kochbuch ihrer verstorbenen Großmutter Vittoria im Gepäck geht sie auf eine Reise quer durch Italien. Zwischen engen Gassen und weiten Hügeln sucht Greta nach sich selbst — und den besten Rezepten von Venedig bis Neapel. Unter der Sonne Apuliens wagt sie einen letzten Versuch, ihre Freundschaft zu Katrin zu retten. Und sie muss lernen, ihr Herz für die Liebe zu öffnen.
Der Duft von Pinienkernen (Ullstein Verlag)
ISBN-13: 978-3548289083
Eine Geschichte um zwei beste Freundinnen, eine wachsende Liebe und die magische Kraft der italienischen Küche
Leseprobe
Am nächsten Tag fand sich Greta zu ihrer eigenen Überraschung an Lucas Seite in Verona wieder. Sie hatten am Abend zuvor noch darüber gesprochen, dass sie für ihr Kochbuch noch viel mehr von Venetien sehen musste als nur Venedig selbst. Und schon hatte Nino ihr seinen Freund als Fremdenführer angeboten. Etwas überrumpelt hatten beide dem Vorschlag zugestimmt, und nun parkte Luca den kleinen Fiat direkt vor dem Eingang der Kathedrale Santa Maria Matricolare. Es sah lustig aus, wie der großgewachsene Luca sich aus dem winzigen Innenraum herausfaltete. Beinahe, wie die Puppen, die Nino platzsparend in der Kiste verstaut hatte.
Luca reckte sich und bog nach der eineinhalbstündigen Fahrt in dem Kleinwagen nun genießerisch den Rücken durch. Auch Greta war froh, endlich angekommen zu sein, denn die Fahrt durch die engen Gassen Veronas war mehr als nur abenteuerlich gewesen. Eine Einbahnstraße mündete hier in die nächste, und sie hatte vollkommen die Orientierung verloren und sich einfach auf Luca verlassen, der zwar mehrmals laut geflucht, aber am Ende doch dort angekommen war, wo er wollte.
Nun stand sie vor den weißen Säulen der Kathedrale und bewunderte deren Glanz in der milden Winterluft. Der März stand vor der Tür, und im Gegensatz zu den Temperaturen der letzten Tage in Venedig war es hier geradezu warm. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und ihre Kraft ließ Greta die Knöpfe ihres Mantels öffnen. Sie drehte sich einmal um sich selbst, um sich einen Überblick zu verschaffen.
„In welche Richtung gehen wir?“, fragte sie während sie in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille kramte.
„Das überlasse ich ganz dir. Wenn du nur wegen des Essens hier bist, hast du die freie Wahl. Wenn du natürlich Julias Balkon sehen willst, dann müssen wir in diese Richtung gehen.“
Er deutete an der Kathedrale vorbei nach Süden. „Wir könnten aber auch dem Etsch folgen und am Flussufer entlang einen Bogen um die Innenstadt machen.“
„Natürlich will ich den Balkon sehen. Aber lass uns mitten durch die Stadt gehen. Die vielen rotbraunen Gebäude gefallen mir, und ich will mich gerne noch etwas umsehen.“
Sie schob sich die getönten Gläser vor die Augen und lächelte Luca an. Der Ausflug war genau das Richtige, nachdem sie die halbe Nacht wachgelegen und über ihre Freundschaft zu Katrin nachgedacht hatte. Der Tag mit Luca würde sie auf andere Gedanken bringen.
Sie hakte sich bei ihm ein und genoss das Gefühl der Geborgenheit, das seine Größe mit sich brachte. An unzähligen Bogentüren vorbei, unter geschmiedeten Straßenlaternen hindurch und mit Blick auf olivgrüne Fensterläden vor den verzierten Fassaden schlenderten sie der Beschilderung folgend in Richtung Casa di Giulia. Auf einem Balkon über ihnen bepflanzte eine Frau Blumenkästen und feine Erde rieselte herab. Luca wechselte auf die andere Straßenseite und schimpfte einem Auto hinterher, das zu nah an ihnen vorbeifuhr.
Ein kleines Lokal in einer Seitengasse öffnete gerade und eine rundliche Kellnerin deckte die wenigen Tische ein.
„Willst du hier deine Recherche beginnen?“, fragte Luca und deutete auf die Stühle.
Obwohl es fast noch zu kalt war, um draußen zu essen, setzten sie sich an den Tisch in der Sonne und blätterten durch die Speisekarte. Zu jedem Menü wurde Polenta gereicht, und Luca bestand darauf, dass Greta die Leber mit Röstzwiebeln probierte.
„Das ist ein typisches Rezept für das Veneto“, erklärte er, und bestellte sich selbst mit Gnocchi di san zeno ebenfalls ein traditionelles Gericht.
„Leber ist ja nicht so mein Fall“, gestand Greta zweifelnd, vertraute aber schließlich seiner Empfehlung.
„Schade, dass ich heute Ninos Puppenspiel verpasse“, überlegte sie und sah auf die Uhr. Es war fast Mittag und sie waren gerade erst angekommen.
„Bestimmt gibt er dir eine Privataufführung, wenn wir zurück sind.“
„Das muss er nicht. Ich will ihm keine Mühe machen.“
Luca lachte und winkte ab.
„Das macht ihm keine Mühe. Nino liebt seine Puppen. Und er ist froh über jede Gelegenheit, sie aus ihrer Kiste zu befreien. Er wird dich überreden wollen, mit ihm zu spielen.“
„Das kann ich nicht. Ich … bin zu … nüchtern für sowas. Ich käme mir komisch vor.“
„Ich weiß, was du meinst. Ist mir am Anfang auch so gegangen. Man überlegt sich, was die Puppe wohl tun könnte, was sagen … und es fällt einem einfach nichts ein. Aber wenn man die Fäden eine Weile in der Hand hält, dann … passiert etwas Magisches. Sie fangen einfach an, sich zu bewegen. Sie lassen die Arme kreisen, gehen einige eckige Schritte und hüpfen. Und dann sagen sie, was du denkst. Sie sind ehrlich. Kennen keine Scheu.“ Luca lachte. „Es ist erschreckend, wie ehrlich sie sein können.“
„Was meinst du? Hast du ein Beispiel?“
Luca wurde rot, was bei seiner bronzefarbenen Haut fast unmöglich schien.
„Ich sollte dir davon nicht erzählen“, wehrte er grinsend ab und schien froh, als sein Essen serviert wurde. Sein geheimnisvolles Getue weckte Gretas Neugier, aber sie wartete, bis die Kellnerin serviert hatte, ehe sie nachbohrte.
„Na komm, sag schon. Was war das mit den Puppen?“
Luca grinste und nahm einen Löffel seiner käsebuttrigen Gnocchi.
„Na schön, ich … ich erzähle es dir. Aber du darfst Nino nichts davon sagen, sonst reißt er mir den Kopf ab und lässt mich auf der Couch schlafen.“
„Du machst es ja spannend.“ Greta lachte und schnitt sich ein Stück von der dunkel gebratenen Leber ab. Während sie das Stück durch die Soße zog und mit Röstzwiebeln überhäufte, blickte sie ihn unverwandt an.
„Na gut, wo fang ich an …“ Luca überlegte kauend. „Es war eines Abends, Nino und ich, wir … kannten uns noch nicht lange – und noch nicht so gut. Über unsere Gefühle hatten wir bis dahin noch nie gesprochen.“
Greta lächelte. Sie liebte Liebesgeschichten, und das hörte sich ganz nach einer an. Sie ließ sich ihr Menü auf der Zunge zergehen und fand, dass der bittere Geschmack der Leber sich samtig zur Polenta ergänzte. Der weiche Maisgrieskuchen gab dem Menü die nötige Süße. Am liebsten hätte Greta genießerisch die Augen geschlossen, um den Geschmack voll auszukosten, aber ihre Neugier für Lucas Geschichte hielt sie davon ab.
Unter ihrem erwartungsvollen Blick erzählte er weiter.
„Wir saßen also zusammen und keiner von uns brachte den Mut auf, den ersten Schritt zu machen, da …“ Luca sah verträumt aus. „… da holte er eine Puppe aus der Kiste. Ich war überrascht, wie ähnlich mir die Puppe sah. Sie war langgliedrig.“ Luca hob seine langen Arme und streckte unter dem Tisch demonstrativ seine Beine. „Und etwas größer, als die anderen in seiner Kiste.“ Luca lächelte. „Er hat mich gut getroffen. Hat mein Kinn, meine Nase – und vor allem meine Augen erstaunlich gut kopiert.“
Greta betrachtete das Gesicht vor sich und stellte sich vor, wie schwer es sein musste, aus der Erinnerung heraus, ein Gesicht nachzuempfinden.
„Er muss dich lange betrachtet haben“, schussfolgerte sie.
„Das habe ich auch gedacht. Und ich fühlte mich geschmeichelt. Ich muss ihn fasziniert haben, sonst hätte er das doch sicher nicht gemacht.“
„Du musst in jedem Fall Eindruck auf ihn gemacht haben.“
„Mit der Puppe, die aussah wie ich, hat er auf jeden Fall auf mich Eindruck gemacht. Ich war regelrecht gerührt.“ Luca kratzte die Soße auf seinem Teller zusammen und steckte sich den letzten Löffel in den Mund. Dann tupfte er sich die Lippen an der Serviette ab und lehnte sich zurück. „Er legte mir die Fäden in die Hand, und wir berührten uns. Zaghaft, zärtlich, aber ohne … ohne Druck. Ich war scheu. Wusste nicht, was ich jetzt tun sollte, aber Nino erwartete nichts. Er nahm Piccolo Nino aus der Kiste und lächelte mich an.“ Lucas Blick war verklärt – beinahe nach innen gerichtet, als durchlebte er den Abend noch einmal. „Dann war alles einfach. Piccolo Nino war mutiger, als Nino selbst. Er tanzte leichtfüßig zu mir herüber und ließ auch mich meine Puppe zum Leben erwecken. Wir lachten viel, als ich die Puppe versuchte zu beherrschen.“
Greta vergaß zu essen. Sie schaute in Lucas Gesicht und verspürte einen Hauch von Eifersucht, als sie erkannte, wie tief seine Gefühle für Nino gehen mussten, wohingegen sie selbst niemanden hatte, den sie liebte.
„Was ist dann passiert?“, flüsterte sie andächtig.
„Seine Puppe tanzte, kess und lebensfroh, aber in Ninos Gesicht war Unsicherheit. Ich wusste, er würde den ersten Schritt nicht machen – oder vielleicht hatte er ihn mit der Puppe gemacht – aber nun lag es an mir. Also habe ich mich auf die Fäden konzentriert und mit einem Mal ging es ganz einfach. Ich ließ die Puppe zu ihm gehen, hob den Arm …“ Luca lachte. „… und schlug ihm ins Gesicht.“
„Was?“, Greta prustete ungläubig über den Tisch. „Du hast was …?“
Lucas Lachen hallte durch die enge Gasse und schreckte eine Taube über ihnen auf.
„Ich wollte mit der Puppe Piccolo Nino streicheln, wollte ihm zeigen, dass …“
„Dass du ihn verprügeln willst?“, kicherte Greta und presste sich die Serviette auf den Mund.
„Ja, so kam es wohl rüber, aber mein entsetzter Gesichtsausdruck muss wohl für mich gesprochen haben, denn Nino lachte, legte die Fäden aus der Hand und kam zu mir. Er legte mir die Hand auf den Rücken und fuhr damit bis in meinen Nacken. Dann hob er meine Arme und breitete sie aus.“ Luca streckte die Arme, um zu zeigen, was er meinte. „Er sagte: Wenn du deine Puppe jemanden schlagen lassen willst, dann muss die Bewegung von unten kommen. Dann zupfte er an meinem Shirt, als zöge er an den Fäden.“ Luca lächelte Greta an. Wieder scheu und doch stolz. „Ich habe ihm gesagt, dass meine Puppe nicht schlagen wollte. Du hättest seinen Blick sehen sollen. Was wollte die Puppe denn machen?, hat er gefragt und dabei den Kopf so leicht schiefgelegt und mich mit seinen rehbraunen Augen angesehen.“
„Was hast du geantwortet?“
Luca lachte.
„Nichts. Ich habe die Arme gehoben und gesagt, dass ich das machen wollte. Und dann habe ich ihn an mich herangezogen und geküsst.“
„Wie romantisch!“, Greta ertappte sich bei einem breiten Grinsen und klatschte leise in die Hände. „Das ist wirklich die süßeste Geschichte, die ich je …“
„Sie ist nur dann süß, wenn sie genau hier endet“, unterbrach Luca sie und zwinkerte ihr zu. „Wenn ich dir sage, was meine Puppe an diesem Abend noch für Bewegungen gelernt hat, dann …“
„Oh Gott!“ Greta warf die Serviette nach ihm. „Wehe du zerstörst diese schöne Geschichte jetzt mit Informationen, die eindeutig nicht für Außenstehende gedacht sind!“
Lucas schallendes Gelächter ließ sogar Passanten in der Querstraße die Köpfe zu ihnen umdrehen.
„Und wenn ich nun tanzen oder so gemeint habe?“, foppte er sie mit spitzbübischem Grinsen.
„Hast du denn tanzen gemeint?“, ließ sich Greta nicht darauf ein und trommelte abwartend mit den Fingern aufs Tischtuch.
„Nein!“, gestand er. „Denn, wenn Nino eines nicht kann, dann ist es tanzen.“
„Julias Balkon!“, flüsterte Greta eine Stunde später mit ehrfürchtigem Staunen. Sie staunte nicht so sehr über den Balkon an sich, als über das Gefühl, das sie bei seinem Anblick überkam. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme und sie fragte sich, warum ein Stück Literatur es schaffte, so viele Menschen zu bewegen. Und dass die Menschen, die hierherkamen, bewegt waren, bewiesen die unzähligen Botschaften, die an den Wänden hinterlassen wurden. Namen von Liebenden, Briefe, Fotos. Der Innenhof war gepflastert mit dem ewigen Wunsch nach Liebe.
„Wusstest du, dass es Romeo und Julias Geschichte schon lange vor William Shakespeare gab?“
Greta nickte.
„Ja, ich weiß. Er hat ja im Grunde nur das Werk des Schriftstellers Arthur Brooke in ein Bühnenstück adaptiert. Und ich glaube auch Brooke hat sich irgendwo inspirieren lassen. Die Geschichte von Romeo und Julia gibt es jedenfalls in etlichen sich jeweils ähnelnden Versionen schon seit dem frühen sechzehnten Jahrhundert.“
Luca hob überrascht die Augenbrauen.
„Ich bin beeindruckt!“ Er deutete auf die übrigen Besucher in dem kleinen Innenhof und senkte die Stimme. „Ich wette, mehr als die Hälfte dieser Touristen kennt Romeo und Julia nur aus dem Kino und denken an einen halbwüchsigen Leonardo DiCaprio, wenn sie sich Romeo vorstellen.“
Greta grinste.
„Autsch! Du triffst den Nagel auf den Kopf. Obwohl ich weiß, dass Romeo Italiener war und vermutlich keine blonden Haare hatte, denk ich automatisch auch an Leo. War einfach ein süßer Film.“
„Was ist süß daran, wenn die beiden am Ende tot sind?“
„Keine Ahnung, aber wenn man sich all die Liebesbotschaften hier an den Wänden anschaut, hatte dieses Drama doch ein durchaus positives Ende, oder nicht?“
Luca zuckte die Schultern.
„Sind es wirklich Liebesbotschaften, oder verbirgt sich nicht auch hinter all diesen Worten ein Drama? Wie viele dieser Briefe sind wohl von unglücklich verliebten verfasst? Oder handeln von unerwiderter oder verlorener Liebe? Schließlich haben Romeo und Julia auch viele Fehler gemacht – und am Ende dafür bezahlt.“
Greta drehte sich im Kreis und sah sich die Zettel noch einmal an. Diesmal mit anderen Augen. Waren die Menschen hinter den Botschaften verzweifelt? Unglücklich? Bereuten einen Fehler, der sie die Liebe und Zuneigung einer Person gekostet hatte? Suchten sie hier Vergebung oder hofften, dass irgendeine höhere Macht das Glück, das sie vielleicht in diesem Moment noch in den Händen hielten, bewahren würde, weil sie selbst zu schwach dafür waren?
„Ich will auch eine Botschaft hierlassen!“, beschloss sie spontan und tastete unauffällig nach ihrem Armkettchen. „Keine Liebesbotschaft, denn vielleicht hast du recht. Vielleicht ist dies kein Ort für die Liebe. Sondern ein Ort, der einen aufrüttelt, Fehler zu erkennen und zu bereuen. Und ich habe einen verdammt großen Fehler gemacht!“
„Welchen Fehler denn, Bella?“
„Ich … ich will nicht darüber reden, aber … aber vielleicht hilft mir ja die schöne Julia, wieder mit mir ins Reine zu kommen.“
Am Abend in ihrem Hotel dachte Greta über ihre Botschaft für Julia nach. Sie hatte sich ihren Kummer von der Seele geschrieben und fühlte sich jetzt tatsächlich leichter. Ihre Schuld – das war ihr klar – wurde dadurch nicht kleiner, aber sie lastete nicht mehr so schwer auf ihr.
Ob Katrin durch die Zeit, die nun schon verstrichen war, wohl ebenfalls bereute, was geschehen war? Nicht, dass die etwas falsch gemacht hätte, aber die Kälte, mit der sie Greta von sich gestoßen hatte, hatte Greta dennoch überrascht.
Überrascht und erschreckt. Es gab nur wenige Menschen in Gretas Leben. Wenige, die ihr so viel bedeuteten, wie Katrin. Und darum würde sie alles tun, um die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Sie würde alles tun – aber sie wusste nicht was! Wie ließe sich dieser Fehltritt ungeschehen machen?
Nachdenklich rollte sie sich vom Rücken auf den Bauch und starrte in ihren Koffer. Sie hatte es noch nicht geschafft, ihre Klamotten in den Schrank zu hängen – vermutlich würde sie das auch nicht mehr machen. Zwischen ihren Jeans und den Socken lugte Großmutters Kochbuch hervor. Sie hatte sich selbst für verrückt erklärt, das schwere Ding mit auf die Reise zu nehmen, aber irgendetwas in ihr hatte darauf bestanden.
Nun reckte sie sich nach dem Buch, um dabei nicht aufstehen zu müssen. Sie war erschöpft. Der Abend mit Luca und Nino gestern war lang gewesen, und der Ausflug heute hatte sie stundenlang zu Fuß durch Verona geführt. Luca hatte sie eingeladen, bei ihnen zu essen, aber die Müdigkeit hatte sie zurück in ihr Hotel getrieben.
Und jetzt lag sie da und fand keine Ruhe, weil ihr Katrin einfach nicht aus dem Kopf ging. Das war wirklich schlimmer als jeder Liebeskummer!
Sie ächzte, als sie das schwere Buch auf die Matratze zog. Wie immer fuhr sie zärtlich über den Einband, ehe sie ziellos durch die Seiten blätterte und in Großmutters Ratschlägen nach einer Anleitung zum Glücklich sein suchen.
Erst das Klingeln ihres Handys eine ganze Weile später ließ sie das Buch wieder schließen. Hektisch sprang sie auf, denn außer Katrin riefen für gewöhnlich nicht viele Leute an.
„Hallo?“, meldete sie sich beinahe atemlos und versuchte dabei, die fremde Nummer auf dem Display irgendeinem Gesicht zuzuordnen.
„Frau Martinelli? Christoph Schilling hier.“
„Ach – Sie sind es nur“, entfuhr es Greta, und sie schlug sich überrascht auf den Mund.
„Ja, äh … sieht so aus.“
„Entschuldigung, das war … ich hatte jemand anderen erwartet.“
„Nun, sollen wir dann später nochmal telefonieren? Ich möchte nicht Ihre Leitung belegen, wenn Sie einen Anruf erwarten.“
Greta strich sich das Haar auf den Rücken und betrachtete ihr Spiegelbild in dem goldgerahmten Spiegel neben der Zimmertür. Obwohl Schilling sie ja nicht sehen konnte, streckte sie den Rücken durch und versuchte sich an einem professionellen Ton.
„Nein, nein. Ich …“ Es würde nichts helfen, das Gespräch zu verschieben, denn vermutlich würde Katrin in hundert Jahren nicht bei ihr anrufen. „Lassen Sie uns ruhig sprechen. Sie stören nicht.“
„Wo sind Sie denn?“, fragte Schilling, und Greta erhob sich aus dem Bett. In Socken trat sie an das große Bogenfenster und blickte hinaus auf den Kanal. Auf den Sternenhimmel über Venedig.
„In meinem Hotel. Herr Frischmann hat ein sehr schönes Zimmer für mich im Herzen Venedigs reserviert. Es ist wirklich toll. Ich blicke gerade auf den Kanal.“
„Den Canale Grande?“
Greta lachte leise. „Nein, ein vollkommen unbedeutender Nebenarm, aber hübsch ist es trotzdem.“
„Das glaube ich Ihnen. Ich komme gerade aus Mailand, aber das Wetter, beziehungsweise der Himmel gibt zu wenig her, um vernünftige Kalenderaufnahmen schießen zu können. Die Fotos für den Reisebericht habe ich …“ Er unterbrach sich, und Greta konnte hören, wie er sich mit der Hand über die Bartstoppeln strich. „… Das ist ja für Sie nicht von Interesse. Warum ich anrufe: Ich würde die Gelegenheit gerne nutzen und anders als geplant schon morgen die ersten Bilder für Ihr Kochbuch machen.“
„Morgen?“ Gretas Puls beschleunigte sich, und sie fing an, nervös durch das plötzlich viel zu kleine Hotelzimmer zu streifen. „Also, ich weiß nicht, ich …“
„Haben Sie eine passende Küche gefunden? Eine Vorstellung Ihrer Rezepte? Etwas, das sie authentisch mit Venezien und der venezianischen Küche vereint?“
„Was …? Ähm …“ Greta war vollkommen überrumpelt. Offenbar hatte sie sich nicht zielstrebig genug um ihr Projekt gekümmert, denn auf keine von Schillings Fragen hatte sie eine passende Antwort.
„Wir haben nur zwei Tage, denn ich bin nächste Woche mit einem Architekten in Pisa verabredet“, erklärte er weiter.
„Ja, also … sicher, ich bin soweit“, log sie. „Ich weiß genau, was ich will. Das wird super!“
Sie raufte sich die Haare und bemerkte hektische, rote Flecken auf ihren Wangen, als sie bei einer ihrer nervösen Runden durch den Raum am Spiegel vorbeikam.
Das wird super? Das endete ganz bestimmt in einer Katastrophe! Sie hatte ja noch nicht mal eine Idee für ein Rezept. Aber wenn sie das diesem Schilling jetzt gestehen würde, würde er womöglich Frischmann von ihrer Untätigkeit in Kenntnis setzen und der das ganze Projekt beenden. Sie brauchte also dringend einen Plan. Und ein Rezept. Und Hilfe!